Gonde Dittmer

Beziehungen

Kurzgeschichten

Inhalt

  • Ein Nächtlicher Besuch 
  • Eine Endgültige Entscheidung
  • Der Kinobesuch
  • Am Strand
  • Der Zweite Mann
  • Der Grund in ihren Augen
  • Eine Erwiderte Liebe
  • Das Verhältnis
  • Geradeaus
  • Der Sinn
  • Die Fremde Frau
  • Ein Letzter Versuch
  • Das Messer
  • Bilderwelten
  • Der Tanz
  • Der Abschied
  • Die Verklärte Liebe
  • Verlorenes Vertrauen
  • Der Kompromiss
  • Der Verlust
  • Die Massage
  • Vermisst
  • Harmlose Scherze
  • Carolas Geburtstag
  • Der Brief
  • Der Segeltörn
  • Der Geliebte Gefährte
  • Das Verhör

Leseprobe: Am Strand

Den Kopf hält er leicht nach vorn geneigt. Automatisch setzt er Fuß vor Fuß, bemüht, wie einer unsichtbaren geraden Linie zu folgen, und hinterlässt dabei eine deutliche Spur. Wenn er einen Schuh für den nächsten Schritt hebt, schnickt er den Sand von der Schuhspitze. Manchmal spült eine Welle Wasser bis dicht an seine Füße. Er achtet nicht darauf. Er ist tief in seinen Gedanken versunken. Seine Stimmung schwankt zwischen Traurigkeit, Trotz und Verletztheit.

Gestern hatte sie ihn verlassen. Sie hatten sich nicht gestritten. Sie hatte ihm keine Vorwürfe gemacht, aber auch keine Begründung gegeben, warum sie gehen wollte. Sie war einfach gegangen und hatte nur eine Tasche mit persönlichen Sachen mitgenommen. Er hatte sie gefragt, wann sie wieder käme. Sie hatte geantwortet, er möge nicht auf sie warten.

Zunächst hatte er den Vorgang als unbedeutend und eher als ein Spiel oder Spaß und nicht als Wirklichkeit erlebt. Deshalb hatte er auch keinen Versuch unternommen, mit ihr eine ernsthafte Auseinandersetzung zu beginnen. Das konnte einfach nicht wahr sein. Sie würde wie immer mit ihm gemeinsam das Abendessen einnehmen. Wie er erst später wahrnahm, lagen ihr Ehering und der Schmuck, den er ihr geschenkt hatte, in einer Schale auf der Anrichte. Wie tief er getroffen war, wurde ihm erst bewusst, als sie schon längst das Haus verlassen hatte.

Sie hatten ihr Quartier an der See wie immer bereits im vorigen Jahr gebucht. Da es zu spät war zu stornieren, hatte er sich kurz entschlossen ins Auto gesetzt und war allein gefahren. Es wurde ihm gar nicht bewusst, dass sie das gemeinsame Auto nicht mitgenommen hatte. Er hatte in der Nacht nicht viel schlafen können und war froh, durch die nötige Konzentration auf den Verkehr an nichts anderes denken zu müssen. Er war die ihm so vertraute Strecke gefahren, hatte alle bewussten Gedanken ausgeschaltet und konnte sich am anderen Morgen an keinerlei Einzelheiten erinnern.

Nach dem Aufwachen hatte er die fast zuversichtliche Hoffnung, sie würde es sich anders überlegen und ihm nachkommen. Er hatte allein gefrühstückt und war froh, dass ihre Wirtin nicht nach ihr fragte. Doch jetzt auf seinem einsamen Strandspaziergang, den sie beide so geliebt hatten, war er wieder seinen Erinnerungen ausgeliefert.

Wie immer in ihrem gemeinsamen Leben versucht er, sie zu verstehen, aber es gelingt ihm nicht. Ihr Zusammenleben ist seit Jahren harmonisch verlaufen und von einer wohltuenden Gleichmäßigkeit gekennzeichnet. Sie leben in materiell gesicherten Verhältnissen, da sie beide erfolgreich in ihren Berufen sind. Sie haben sich eine Umgebung geschaffen, in der sie alle ihre Vorstellungen verwirklichen konnten. Alles war perfekt. Es gab keinen Raum für Verbesserungen.

Den Samstag begannen sie mit einem ausgedehnten Waldlauf, am Sonntag unternahmen sie häufig Fahrradtouren in die nähere Umgebung. Im Sommer fuhren sie regelmäßig an die See, im Winter zum Skilaufen. Dazu bedurfte es keinerlei besonderer Verabredung.

Sie haben Freunde, die sie von Zeit zu Zeit zum Essen einluden, und deren ebenso regelmäßigen Einladungen sie gern folgten. Übliche Themen sind Politik und Beruf. Sie sind durch ihre berufliche Arbeit stark beansprucht. Hätte es irgendetwas gegeben, das sie vermisste, so glaubt er, hätte sie es ihm sicherlich gesagt.

Wenn sie sich abends nach der Arbeit in der gemeinsamen Wohnung trafen, übernahmen sie die miteinander seit langem stillschweigend vereinbarten Pflichten im Haushalt, wirkten abwechselnd in der Küche und nahmen anschließend gemeinsam das Abendessen ein. Ihre Kost war einfach, schmackhaft und gesundheitsbewusst.

Sie teilten sich die Tageszeitung. Sie war mehr am Feuilleton, er eher am Wirtschaftsteil interessiert. Es wurde dann bald schon Zeit für die Abendnachrichten. Sie gingen selten aus. Sie lasen, sahen sich einen Film im Fernsehen an oder bereiteten sich auf den nächsten Arbeitstag vor. Lesen war schon immer ihre Leidenschaft. Er liebte ihr gemeinsames Leben, es war genau so, wie er es sich immer gewünscht hatte. Es gab für ihn keinen Grund, nicht glücklich zu sein.

Die nächste Welle sieht er zu spät. Sie spült über seine Schuhe. Seine Socken sind durchnässt. Er bückt sich, zieht Schuhe und Strümpfe aus, stopft sie in die Schuhe, bindet diese an den Schnürsenkeln zusammen und hängt sie sich über die Schulter. Er genießt beim Weitergehen die Berührung seiner Fußsohlen mit dem von der Sonne erwärmten Sand. Er ist der Welle, die seine Schuhe durchnässte, dafür dankbar.

Seine Gedanken kehren zu ihr zurück. So sehr er sich auch bemüht, er weiß nicht wirklich, warum sie ihn verlassen hat. Er hat sie immer geliebt und seine Liebe ist über die Jahre nicht geringer geworden. Sie hatte eigentlich alles, was sie sich wünschen konnte.

Die Abende mit ihr waren friedlich. Wenn sie sich unterhielten, waren sie sich meist einig. Sie stritten nur selten. Es gab dafür auch keine Anlässe. Sie erzählten sich von ihren Erlebnissen und Eindrücken des Tages und nahmen regen Anteil am Leben des anderen. Wenn sie gegen elf Uhr ins Bett gingen, wünschten sie sich mit einem Kuss auf die Wange liebevoll eine gute Nacht. Manchmal liebten sie sich. Sicher, es war nicht mehr so aufregend wie zu der Zeit, als sie sich kennen gelernt hatten. Inzwischen wussten sie um ihre gegenseitigen Wünsche und Vorlieben. Sie waren rücksichtsvoll miteinander und nie ungeduldig. Es hatte sich ein gewisser wiederkehrender Ablauf eingespielt.

Er sieht sie nicht kommen, da er immer noch nach unten schaut. Als er ihre Füße bemerkt, ist es bereits zu spät zum Ausweichen. Sie stoßen mit ihren rechten Schultern aneinander. Er erwacht aus seinen Gedanken, hebt den Blick und schaut sie an. Er ist verlegen, weil der Zusammenstoß ihm unangenehm ist.

„Entschuldigen Sie, ich habe Sie zu spät gesehen. Ich war in Gedanken und habe nach unten geschaut.“

„Nein, es war meine Schuld. Mein Blick war auf das Wasser gerichtet.“

Sie stehen sich gegenüber. Es entsteht eine Pause, da beide nicht wissen, was sie sagen sollen. Sie will die Pause überbrücken und wagt einen Versuch. „Machen Sie auch einen Strandspaziergang?“

Nach kurzem Zögern fügt sie hinzu „Das war keine sehr geistreiche Frage.“

Beide lachen und durch das Lachen weicht die von ihrer Fremdheit verursachte Spannung.

„Ja, das tue ich“ antwortet er ernsthaft auf ihre Frage und fügt mit der Andeutung eines Lächelns hinzu „Aber ich laufe in die entgegen gesetzte Richtung.“

„Wollen wir das ändern?“

Er ist sich nicht sicher, welche Änderung sie sich vorstellt. Er nimmt seinen Mut zusammen und wagt einen Versuch.

„Da Sie meinen Schwung ohnehin zum Stillstand gebracht haben, werde ich mich auf Ihre Richtung einlassen.“

Damit dreht er sich um und sie setzen sich beide ohne weitere Worte gleichzeitig in Bewegung. Diese Entwicklung scheint in ihrem Sinne zu sein, da sie sich wie selbstverständlich bei ihm einhakt und ihren Schritt dem seinen anpasst. Obgleich ihre Hand mit nur leichtem Druck auf seinem Unterarm ruht, fühlt er ihre Wärme auf seiner Haut. Dies löst ein intimes, ungewohntes Gefühl aus und es macht ihn verlegen.

Er nimmt die zögerliche Unterhaltung wieder auf. „Sind Sie allein hier?“ fragt er, um seine Verlegenheit zu überspielen.

„Nun sind wir quitt“ antwortet sie. „Ihre Frage ist nicht geistvoller als die meine.“

Versöhnlich fügt sie hinzu „Ich bin tatsächlich allein hier.“ Nach einigen Schritten fühlt sie sich zu einer Ergänzung verpflichtet.

„Wir sind seit Jahren im Sommer gemeinsam hierher gekommen. Gestern habe ich meinen Mann verlassen.“

Sie weiß nicht, warum sie es ihm sagt. Sie kennt ihn erst den Zeitraum weniger Schritte und ist ihm schließlich keinerlei Erklärung oder Rechenschaft schuldig. Doch sie spürt, dass ihn irgendetwas bedrückt, und glaubt, dass es nicht richtig wäre, das Gespräch jetzt zu beenden.

„Es geht mich zwar nichts an, aber darf ich Sie trotzdem fragen, warum?“

„Sie haben Recht. Es geht Sie nichts an.“

Sie sagt es, weil sie Zeit gewinnen will. Sie hat nach ihrer gestrigen Trennung noch mit niemandem darüber gesprochen. Daher hat sie keine Erklärung auf seine Frage bereit. Wie soll sie es einem Fremden erklären? Sie denkt einige Schritte und Atemzüge nach, bevor sie fortfährt.

„Ich kann dafür keinen konkreten Grund nennen.“ Sie ist sich selber der Dürftigkeit ihrer Antwort auf seine berechtigte Frage bewusst. Er wird sicherlich eine ihn zufrieden stellende Antwort erwarten.

„Man tut doch einen so entscheidenden Schritt nicht ohne triftigen Grund. Sie müssen doch irgendetwas dabei gedacht oder gefühlt haben. Ich habe zwar kein Anrecht auf eine Antwort, aber wir haben das Gespräch bis zu diesem Punkt treiben lassen.“

„Das ist wahr. Als ich mich dazu entschloss, zu gehen, war ich sicher, das genau Richtige zu tun. Ich bin jedoch noch nicht soweit, jemand anderem dafür eine Rechtfertigung in verständlicher Form liefern zu können. Es war ein Gefühl der Sehnsucht, eines Verlangens nach etwas Besonderem, Aufregendem, aber auch ein Gefühl einer gewissen Leere.“

Wie er läuft sie barfuss. Sie lässt ihre Hand auf seinem Arm liegen und verstärkt leicht den Druck. Er schweigt. Er ist mit Ihrer Antwort nicht zufrieden, schweigt jedoch, da er glaubt, dass sie weiter sprechen wird.

„Ich glaube, diese Sehnsucht hat seit langem in mir gearbeitet, ich habe sie jedoch nicht bewusst wahrgenommen. Ich erinnerte mich an dieses warme Gefühl im Bauch, an dieses erstarkende Selbstwertgefühl, das ich genau dann in meinem Leben als eine Sensation in mir empfand, als er mich zum ersten Mal in den Arm nahm und mit seiner Hand über mein Haar strich. Ich fühlte mich geborgen. Ich wusste plötzlich, wofür ich bis zu diesem Tage gelebt hatte. Genau dieses Gefühl war es, auf das ich unbewusst gewartet hatte und von dem ich in diesem Augenblick glaubte, es würde dauerhaft sein und mich nie wieder verlassen. Ich habe es seither schon lange nicht mehr erlebt.“

Sie gehen schweigend weiter durch den Sand. Ihre Schritte passen sich einander an, als seien sie ein Leben lang zusammen gegangen. Er ist von dem, was sie sagte, überrascht und versucht, sich in ihre Lage zu versetzen und zu verstehen, was sie meint, aber das Verständnis bleibt unvollkommen. Wie kann ein Mensch glauben, dass ein Gefühl eines Augenblicks ihn nie wieder verlassen würde? Seinen nächsten Fragen ist die Ungeduld anzumerken.

„Und weil Sie dieses Gefühl vermissen, haben Sie ihn verlassen? Hat es denn wirklich nur an ihm gelegen? Hat Ihr Mann gewusst, was sie verloren oder vermisst hatten? Haben Sie mit ihm darüber gesprochen? Haben Sie ihm eine Chance eingeräumt?“

„Das sind mehrere Fragen auf einmal. Ich kann nicht sagen, ob es einen so zwingenden Zusammenhang gibt. Vielleicht spürte ich auch nur, dass die Zeit vergeht, ohne dass ich dieses Gefühl, für einen anderen Menschen etwas ganz Besonderes zu sein, je wieder erleben würde. Haben Sie nie den Alptraum geträumt, Sie würden gerade einen ungeheuer wichtigen Zug verpassen, etwas Unwiederbringliches würde Ihrem Zugriff entgleiten?“

Er ist nicht sicher, ob sie wirklich eine Antwort von ihm erwartet oder die Frage nur rhetorisch gemeint war, möchte ihr aber jetzt keine Fragen über sein eigenes Schicksal beantworten müssen, sondern versuchen, ihre Beweggründe für die seiner Meinung nach ungerechtfertigte Handlung zu verstehen.

„Glauben Sie denn, dass Sie dieses Gefühl, geachtet und begehrt zu werden, dadurch wiedergewinnen können, dass Sie weglaufen? Ist Ihr Selbstwertgefühl denn so stark von einem anderen Menschen abhängig? Hat Ihr Mann Sie nicht geliebt?“

„Sie stellen schon wieder viele Fragen auf einmal. Auf Ihre letzte Frage möchte ich antworten, dass unsere Liebe so selbstverständlich war. Wir waren überzeugt, dass sie keiner erneuten Bestätigung bedurfte. Sie war so selbstverständlich wie die Einrichtung unserer Wohnung.“

„Haben Sie Ihren Mann danach gefragt, wie er Ihr gegenseitiges Verhältnis empfindet? War er zufrieden? Haben Sie ihm geben können, was er erwartete? Hat er etwas vermisst?“

Seiner Stimme ist seine innere Erregung und Anteilnahme anzuhören. Er mutmaßt, sie könne sicherlich sein starkes Interesse nicht verstehen.

Er versucht, sie zu verstehen. Was genau meint sie? Warum konnte sie die Liebe ihres Mannes nicht einfach genießen? Sie ist undankbar. Ihre Wunschvorstellungen sind unrealistisch und unerfüllbar. Nein, er kann und will sie nicht verstehen. Sogar leichter Zorn steigt in ihm auf. Er möchte sie an den Schultern packen und schütteln und sie zur Vernunft bringen.

Er schaut wieder auf seine Füße. Jetzt erst bemerkt er, dass der sanfte Druck ihrer Hand nicht mehr auf seinem Arm ruht. Er schaut sich um. Sie ist nirgends zu sehen.